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FÜR EIN ZUKUNFTSFÄHIGES BILDUNGSSYSTEM BRAUCHEN WIR EINE ÖFFENTLICHE DEBATTE UND MUT

Mitten im Corona-Ausnahmezustand erschien der aktuelle Bildungsbericht der
Bundesregierung. Bericht wie Ausnahmezustand legen schonungslos offen: Unser Bildungssystem braucht einen Relaunch. Viele außerschulische Programme machen vor, wie eine zukunftsfähige Bildung aussehen kann. Abgucken erlaubt!

Es ist zum Haare Raufen: In den ersten Bundesländern geht die Schule wieder los – mit dem ausgerufenen Ziel, möglichst bald wieder Normalbetrieb herzustellen. Ehrlich gesagt, diesen Normalbetrieb will ich gar nicht zurück! Und statt einer Diskussion, ob es jetzt Maskenpflicht in Schulklassen gibt oder nicht, wünsche ich mir eine öffentliche Debatte über die eigentlich relevanten Fragen:

 

Wie machen wir unsere Bildung chancengerechter? Wie muss Bildung im 21. Jahrhundert aussehen, um Schülerinnen und Schüler stark zu machen für die Digitalisierung, für die Verteidigung demokratischer Werte und für so vieles mehr, was auf sie in einer sich zunehmend wandelnden Welt wartet?

 

Es mangelt ja nicht an Erkenntnis, dass unser Bildungssystem auf die zukünftigen Herausforderungen schlecht vorbereitet ist. Der plötzliche Corona-Shutdown der Schulen hat den Handlungsbedarf im Bereich des Digitalen offenbart. Zusätzlich hat die Krise die eklatant ungleichen Rahmenbedingungen der Schülerinnen und Schüler deutlich gemacht. Fast schon dramaturgisch inszeniert legte dann der Ende Juni veröffentlichte Bildungsbericht der Bundesregierung für diesen Missstand die passenden Zahlen vor. Das deutsche Bildungssystem, einst ein weltweites Aushängeschild, gehört zu einem der ungerechtesten im internationalen Vergleich – und hat seine digitalen Hausaufgaben bislang versäumt. Woran liegt das? Und welche Vorschläge und erprobten Lösungen gibt es bereits?

 

Problem Nr. 1: Bildungserfolg ist immer noch an Herkunft gekoppelt.

 

Homeschooling während der Schulschließungen war eine schöne Idee – vor allem für die Kinder, die einen eigenen Computer besitzen, sich zuhause einen ungestörten Lernort für konzentriertes Arbeiten einrichten können und Eltern haben, die in der Lage sind, Fragen zu den Lerninhalten zu beantworten. Die anderen hatten das Nachsehen. Auch wenn Corona sicher eine Ausnahmesituation darstellt, offenbart es doch, dass der schulische Erfolg eben nicht nur vom eigenen Talent und Fleiß abhängt. Im Bildungsbericht wird dies mit sogenannten Bildung beeinflussenden Risikolagen erklärt, zu denen ein formal gering qualifiziertes Elternhaus, eine armutsgefährdende finanzielle Situation und Arbeitslosigkeit der Eltern gehören. Und das betrifft vor allem Kinder von Alleinerziehenden und Schülerinnen und Schüler mit Migrationsgeschichte: Jedes zweite Kind, das selbst oder dessen Mutter oder Vater nach Deutschland eingewandert ist, ist von mindestens einer Risikolage betroffen (Vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung (Hrsg.): Bildung in Deutschland 2020. Ein indikatorengeschützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung in einer digitalisierten Welt. S. 6). Die Folge: Sie erwerben seltener die Hochschulreife und sind an deutschen Hochschulen unterrepräsentiert. Chancengerechtigkeit sieht anders aus.

 

→ Was ist zu tun: Empowerment von benachteiligten Schülerinnen und Schülern!

 

So lange sich nichts an den ungleichen Rahmenbedingungen der Schülerinnen und Schüler ändert, gilt es, die daraus resultierenden ungleichen Startvoraussetzungen für eine Bildungskarriere durch zielgerichtete Angebote für die benachteiligten Jugendlichen auszugleichen. Das heißt fördern, fördern, fördern. Es gibt einige Programme, die herkunftsbedingte Benachteiligungen durch finanzielle und vor allem ideelle Unterstützung ausgleichen. Ob es „Arbeiterkind.de“ sind, die sich auf Kinder aus Nicht-Akademikerhaushalten fokussieren, die Initiative Teach First Deutschland, die engagierte Hochschulabsolventinnen und -absolventen als zusätzliche Lehrkräfte auf Zeit an Brennpunktschulen entsendet, das Stipendium „grips gewinnt“ der Joachim Herz Stiftung für finanziell oder sozial benachteiligte Jugendliche oder unser START-Stipendium, das sich ganz bewusst nur an Schülerinnen und Schüler mit Migrationserfahrung richtet – allen gemein ist das Empowerment der Jugendlichen. Das heißt, eine auf Potenziale ausgerichtete Bildung, die vor allem die Entwicklung und nicht den Leistungsstand beurteilt. Und das ist uns ganz wichtig: den Schülerinnen und Schülern das Selbstbewusstsein mitgeben, ihre Migrationserfahrung als wertvolle Qualifikation für gesellschaftliche Herausforderungen zu erkennen und zu nutzen.

 

Und statt zu argumentieren, dass eine solche Förderung an Schulen mit Klassengrößen von bis zu 35 Schülerinnen und Schüler nicht möglich ist, sollte doch lieber überlegt werden, ob kleinere Klassengrößen nicht nur während der Pandemie, sondern grundsätzlich eine gute Idee sind. Natürlich, das bedeutet mehr Lehrkräfte und eine größere Schulinfrastruktur. Bei den Bildungsausgaben Deutschlands gemessen am Bruttoinlandsprodukt (4,2 % und damit unter dem EU-Durchschnitt (Ebd. S. 62)) ist aber auch noch viel Luft nach oben.

 

Problem Nr. 2: Schulen sind kein diskriminierungsfreier Raum

 

Zur herkunftsbedingten Benachteiligung kommt ein weiteres Problem, das in den letzten Monaten in Folge der „Black Lives Matter“-Bewegung endlich breiter in der Öffentlichkeit diskutiert wurde: der strukturelle Rassismus und rassistische Denkweisen auch an Schulen, die dazu führen, dass „nicht-weißen“ Schülerinnen und Schülern per se weniger zugetraut wird oder sie schlechter bewertet werden als andere. Belege dafür gibt es nicht nur aus unzähligen Berichten von betroffenen Schülerinnen und Schüler, auch Studien wie „Max versus Murat“ der Universität Mannheim unterstreichen diese Erlebnisse.

 

→ Was ist zu tun? Mehr Sensibilisierung und Bildung fürs Bildungspersonal!

 

Rassismus ist ein Alltagsphänomen. Lehrkräfte und alle anderen am Bildungssystem Beteiligten sind nicht davor gefeit, diskriminierend zu handeln. Fehlbar zu sein ist kein Vergehen, nichts dagegen zu unternehmen hingegen schon. Deshalb gilt es die betroffenen Schülerinnen und Schüler zu stärken und vor allem Lehrkräfte zu sensibilisieren. Es gibt mit „Schule ohne Rassismus“, Projekten der „Amadeo Antonio Stiftung“ und der Bildungsstätte Anne Frank gute Anlaufstellen – sie müssen nur genutzt werden. Zudem gibt es verschiedene Möglichkeiten von Rassismus betroffene Schülerinnen und Schüler zu unterstützen, die ihnen dabei helfen, ein gesundes Selbstvertrauen aufzubauen. Workshops zu Identitätsfragen und die Bestärkung, sich gegen jede Form von Rassismus zu wehren, sind deshalb fester Bestandteil auch unseres Stipendienprogramms. Wo soll die Zeit für Anti-Rassismus Fortbildungen herkommen? Auch hier lässt sich aus der Corona-Zeit lernen: Etwas weniger Präsenztage für Schülerinnen und Schüler dafür mehr Fortbildungstage für Lehrkräfte.

 

Problem Nr. 3: Schlechte Digitale Bildung in Schulen

 

Auch wenn die Corona-Krise schonungslos offengelegt hat, wie wenig digitale Werkzeuge in der schulischen Lehre eingesetzt werden, geht es im Kern nicht darum, wie eine Schule auf den bislang unwahrscheinlichen Fall eines Shutdowns reagiert – viel alarmierender sind auch hier die Zahlen aus dem Bildungsbericht: 77 Prozent der 8. Jahrgangsstufe nutzen weniger als einmal in der Woche digitale Medien für schulbezogene Zwecke (Vgl. ebd. S.14). Zudem findet der Einsatz digitaler Medien nach wie vor eher lehrerzentriert statt.

 

→ Was ist zu tun? Digitale Kompetenzen und 21st Century Skills stärken – von Schülerinnen und Schülern und von Lehrkräften!

 

Eine funktionierende technische Infrastruktur an Schulen ist für gute Digitale Bildung zwar Bedingung, aber bei weitem nicht ausreichend. Die Ergebnisse des jüngsten Schulgipfels zur besseren digitalen Ausstattung von Schulen und Lehrkräften ist daher zwar begrüßenswert, aber den Kern der notwendigen Veränderungen hat auch dieser Gipfel nicht getroffen. Bei Digitaler Bildung geht es nicht darum, Lerninhalte zu digitalisieren, sondern um das Trainieren ganz neuer Kompetenzen. Die zunehmende Digitalisierung vieler Lebensbereiche verändert, wie wir kommunizieren, zusammenarbeiten oder uns informieren. Darauf sollten Schülerinnen und Schüler genauso wie Lehrkräfte vorbereitet werden. Schulen müssen dabei nicht bei Null starten: Think Tanks wie das „Netzwerk Digitale Bildung“, das OECD-Bildungsprojekt „Future of Education and Skills 2030“ oder „P21 – Partnership for 21st Century Skills“ haben umfassende Materialien und Hilfestellungen für Schulen entwickelt. Auch das START-Stipendienprogramm orientiert sich an dem von P21 entwickelten Bildungsmodell der 21st Century Skills; unsere „5Ks“ stehen für Kommunikation, Kritisches Denken, Kreativität, Kooperation und den gesellschaftspolitischen Kompass. Durch eine Bildungspartnerschaft mit der gemeinnützigen Open Higher Education Plattform Kiron stärken wir das selbstorganisierte Lernen unserer Stipendiatinnen und Stipendiaten. Auf einem eigenen digitalen START Campus können die Stipendiatinnen und Stipendiaten absehbar neue Kooperations- und Kommunikationsformen ausprobieren und sich mit hybriden Lernformen auseinandersetzen. Würden nicht auch unsere Schulen etwas mehr von den 5Ks vertragen? Etwas mehr Kooperation zum Beispiel mit den außerschulischen Trägern, die Lösungen für die Probleme unseres Bildungssystems bereits erfolgreich entwickelt haben? Natürlich haben außerschulische Trägerprogramme andere Voraussetzungen. Es geht nicht darum, die Schule mit unseren Angeboten zu vergleichen – aber darum, nützliche Erfahrungen und erkenntnisreiche Daten in skalierbare Best Practices zu übersetzen und sich zu trauen, Schule neu zu denken. Sich zu trauen, eben nicht in den „Normalbetrieb“ zurückzukehren, sondern diese Zäsur zu nutzen, um Neues auf den Weg zu bringen. Schließlich geht es um nichts weniger als unsere Zukunft.

 

Michael Okrob
Geschäftsführer START-Stiftung